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"Feste Gegenstände" von Virginia Woolf

Liebe Virginia,

jedes Wort, das ich jetzt schreibe, könnte eines zu viel sein. Also fasse ich mich am besten kurz.

Ich entdeckte dein Werk vor vielleicht zwanzig Jahren in einem Antiquariat, das deine (posthum veröffentlichte) Sammlung „Ein verwunschenes Haus" führte. Ich hatte bereits meine Bekanntschaft mit sogenannter moderner Literatur gemacht und wusste, dass du ebenso eine besondere Vertreterin dieser Richtung bist. Aber ich war nicht darauf vorbereitet, dass deine Kurzgeschichte „Feste Gegenstände“ mein Verständnis von Prosa und vor allem mein eigenes Schreiben nachhaltig prägen würde.

 

Die Betrachterin und damit der Leser selbst stehen an einem Strand, und sie warten darauf, dass die zu Betrachtenden endlich in ihrer Nähe sind, damit gehört werden kann, was gesagt wird. In meiner Übersetzung heißt es: „Das Einzige, was sich auf dem Halbrund des Strandes bewegte, war ein kleiner schwarzer Fleck. Als er näher (…) kam, wurde (…) offenbar, daß der Fleck über vier Beine verfügte (…)“.

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Diese und die nächsten, ersten Sätze lösten damals und lösen noch heute etwas in mir aus. Eine echte Annäherung an das, was Literatur zu leisten vermag. Die Sätze bedeuten mir so viel, dass ich sie fotografieren musste.

 

Auf nur sieben Seiten entwirfst du in „Feste Gegenstände“ einen ganzen Kosmos, das Leben zweier Menschen, in Gesten und Andeutungen, nicht nur in ihren Worten und Handlungen. Es fühlt sich „echt“ an, was man in „Feste Gegenstände“ liest. Dabei ist „echt“ ein überstrapazierter Begriff, den ich nur in Ermangelung eines besseren Wortes benutze.

 

Liebe Virginia, alles, was du je geschrieben hast, scheint dir so leicht gefallen zu sein, weil es trotz seiner Dichte und Kompliziertheit lebendig ist. Sie atmen, deine Texte, und dieser Begriff ist nicht überstrapaziert. Er trifft so selten zu, dass er nicht verbraucht ist. Vielleicht bist du die Einzige, über deren Texte ich das wirklich behaupten kann. Weil alles so dringlich ist, worüber du schreibst, mag es noch so profan sein.

Es ist aber überliefert, wie hart du an dir und deinen Texten gearbeitet hast. Mir ist ebenso kaum ein Schriftsteller bekannt, der mit derselben Hingabe bis zu seinem eigenen Tod gearbeitet hat. Ein Leben für die Kunst, so könnte man meinen, das zwangsläufig in einem Selbstmord enden musste. Aufgrund eines Scheiterns an den Konventionen und an sich selbst. Vielleicht brauchtest du das Dunkle in dir und in der Gesellschaft, um so außergewöhnlich zu sein.

 

Ich brauchte Jahre, in denen ich „Feste Gegenstände“ nie vergessen habe und konnte, bis ich mich endlich an deine Romane traute. „Zum Leuchtturm“ und „Mrs Dalloway“ möchte ich erwähnen, zwei kurze Romane (in ihrer Länge), die in ihrer Meisterschaft und den Ebenen, auf denen sie wirken, unerreichbar geblieben sind, trotz großer (meist männlicher) Konkurrenz. Auch erwähnen möchte ich deinen brillanten Essay „Ein Zimmer für sich allein“, zu dem ich einen eigenen Liebesbrief verfassen sollte.

 

(c) M. 22. September 2018
(c) M. 22. September 2018

Ich wehre mich eigentlich dagegen, dich ein Genie zu nennen, weil das vielleicht untergräbt, wie hart du an deinen Werken gearbeitet hast. Wer aber einfach deine Texte liest, sich auf sie einlässt und wenig von deiner eigenen Lebensgeschichte kennt, der wird zweifellos genau das in ihnen erkennen. Hier hat jemand geschrieben, der die Meisterschaft bereits hinter sich gelassen hat, eine Person, die Literatur transzendiert und gleichzeitig urmenschliche Erfahrungen außergewöhnlich erscheinen lässt.

Liebe Virginia, ich schätze mich so ungemein glücklich, „Feste Gegenstände“ damals entdeckt zu haben. Weil diese Geschichte der Schlüssel zu mehr wurde. Noch glücklicher bin ich, dass du überhaupt gelebt und diese Welt bereichert hast mit deinem reichhaltigen, innovativen Gesamtwerk, das ich mir nach und nach weiter erschließen will. Ich danke dir.

 

*Der Sonntag gehört meinen Lieblingswerken aus den Bereichen Film, Literatur, Musik, Malerei und Games.*

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