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Die Bücher des Blutes von Clive Barker

Lieber Clive,

hat man deine Kurzgeschichten einmal gelesen, wird man sie nicht mehr los. Wie Geister setzen sie sich im Gehirn fest und zerren an ihm zu den unmöglichsten Zeiten.


Mit deinem (geschriebenen) Werk kam ich Anfang der 1990er Jahre zum ersten Mal in Berührung. Der umgedrehte Kopf des schreienden Mannes auf dem Cover von "Gyre", aber auch das Messer (oder die Machete) vom Titelbild deines fünften Buches des Blutes sprachen sogleich mit mir, einem Teenager, der dem Horror-Genre (in Film, Comic, Literatur und Musik) zu diesem Zeitpunkt vollkommen verfallen gewesen war.

 

Damals waren bereits einige deiner Geschichten verfilmt worden. Du selbst hattest die Regie bei "Hellraiser" und "Cabal" geführt und auch das Drehbuch zu "Rawhead Rex" geschrieben. Abartige Albträume, die mich faszinierten. "Candyman's Fluch" sollte in jenem Jahr erscheinen, als ich deine zwei Bücher kaufte. Ein seltsamer Zufall, das dieser Film auf "Das Verbotene" basiert, eben jene Geschichte, mit der das fünfte Buch des Blutes beginnt.

 

Es sollte aber noch zehn Jahre dauern, Anfang der 2000er Jahre, bis ich nicht nur alle sechs Bücher des Blutes zusammenhatte, die du im Original 1984 und 1985 veröffentlicht hattest und die deinen Ruf als innovativer Horror-Literat begründet hatten. Es sollte so lange dauern, bis ich sie endlich las, alle dreißig Geschichten, in quasi chronologischer Reihenfolge. Beginnend mit der Rahmengeschichte "Das Buch des Blutes" im ersten Band.


Bisher hat es gleich zwei Versuche gegeben, diese Rahmengeschichte, die im sechsten Band mit "Auf der Jerusalem Street" die Anthologie und damit die Reise des Lesers beendet, in Form eines Films einzufangen. Ob angemessen oder nicht, diese Versuche beweisen, wie visionär deine Ideen waren und heute noch sind.

 

Du schreibst, das jeder Mensch ein Buch des Blutes sei. Ganz gleich, an welcher Stelle man uns aufschlägt, dort sind wir rot. Allein dieser Gedanke lässt uns erkennen, dass jeder Unterschied, den wir im anderen zu erkennen meinen, letztendlich nur oberflächlich ist. So wie auch viele Horrorgeschichten uns nur an der Oberfläche schocken und kurz darauf wieder vergessen sind. Was wirklich zählt, liegt in der Tiefe verborgen.

 

2009
2009
2020
2020

Und dort führst du uns mit den Büchern des Blutes hin, mit jeder einzelnen Geschichte. Ob zu den Monstern unter der Stadt, die ihre wahren Herrscher sind. Zu Studenten, die in ihrem Forschungseifer fatale Selbstexperimente durchführen. Oder zu den zwei Städten, deren Einwohner sich Körper an Körper zu Riesen bilden, um sich dann gegenseitig zu bekämpfen. Es geht um Dämonenbeschwörungen, Geister und Besessenheiten. Und doch steckt hinter jeder einzelnen Idee eine ganze Welt voll Fragen ohne direkte Antworten. Der Leser muss denken, wenn er dich liest. Ich liebe das.


Ich sagte zu Beginn, dass man deine Kurzgeschichten nicht mehr loswird, wenn man sie einmal gelesen hat. Es sind die Bilder, die du kreierst, von denen du einige sogar selbst illustrierst. Sie sind von seltener (düsterer) Vorstellungskraft. Bis heute habe ich nichts Vergleichbares gelesen. Und ich bin mir sicher, dass es allen so ergeht, die deine Geschichten kennen.

 

Die Bücher des Blutes bieten eine einzigartige Mischung aus Abseitigem und Verstörendem, manchmal recht Humorvollem und plötzlich wieder Perversem, gesellschaftlich relevant, philosophisch, politisch, kritisch. Du bist dir deiner literarischen Wurzeln bewusst und transzendierst sie in zuvor nicht existenter Weise. Was du mit nur dreißig Geschichten geschaffen und geschafft hast, vermögen andere nicht einmal mit ihrem ganzen Lebenswerk. Und seitdem hast du eine ganze Reihe von Romanen geschrieben, die von mir auch noch entdeckt werden wollen.

 

Als ich mit der Lektüre der Bücher des Blutes schließlich fertig gewesen war, garniert mit ein paar frühen Romanen von dir, wurde mir klar, dass das Horror-Genre jetzt (wieder einmal) auserzählt ist. Und Liverpool war das neue New England. Bereits mit Mitte Dreißig bist du zu einem Riesen geworden, auf dessen Schultern all jene stehen würden, die nach dir kommen.

 

Lieber Clive, dein Werk ist ein Meilenstein, ein moderner Klassiker, der auf seine nächste Wiederentdeckung wartet. Ich danke dir aus den Tiefen meines Buches des Blutes für diese Erfahrungen und Erkenntnisse.

 

*Der Sonntag gehört meinen Lieblingswerken aus den Bereichen Film, Literatur, Musik, Malerei und Games.*


Notiz: Das Titelbild für den heutigen Eintrag in meiner Blog-Liste mit allen sechs Büchern des Blutes stammt nicht von mir. Es ist von dem Anbieter einer eBay-Auktion und ich überlege noch, ob ich zugreife. Denn zurzeit verfügt mein Bücherregal über keine Werke von Clive Barker.

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