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Der Albträumer | Keine Kurzgeschichte


Kurze, unsichere Schritte führen ihn um den Sessel herum zu seinem Gehwagen, während die Hände tastend nach Halt suchen, ihn beizeiten am Sessel oder an der Kommode finden. Er will mir etwas zeigen, sagt er, bei seinen Ordnern im Sekretär, wo noch Platz ist. Bald soll ich andere Aktenordner hinzustellen, alles wieder einsortieren. Nur die wichtigsten Dokumente sollen draußen verbleiben, damit meine Mutter ohne Suchen an sie herankommt. Alles muss bei meinem Großonkel geordnet sein, wie auf dem Amt. Das kommt davon, wenn man vor der Rente für viele Jahre ein Leben als Obergerichtsvollzieher geführt hat. Deutscher kann sie nicht werden, denke ich mir manchmal, diese Akkuratesse, und trotzdem steckt dahinter eine Sensibilität, die mich traurig stimmt. Seine Ordner geben ihm Halt in einer Welt, die er nicht mehr versteht.


Während ich darüber nachdachte, wie ich diesen Text beginnen soll, erinnerte ich eine Idee, die unter anderen Umständen und bei guter Pflege zu einer stattlichen Kurzgeschichte gediehen wäre. Leider machte ich mir nie die Mühe, sie aufzuschreiben. Es existieren lediglich ein paar Fragmente, die ein Anfang werden sollten.

Kurz danach erreichte mich damals nämlich eine andere, eine lautere und bereitwilligere Idee, die ich als nächstes verfolgen wollte. Seitdem liegt der Anfang von „Kennst du Cloverfield?“ unangetastet in meiner Schublade, in der ich dachte, ihn sicher verwahrt zu haben. Ich werde dich nicht schreiben, denke ich, nein, nein. Doch vielleicht habe ich eines Tages eine andere Verwendung für dich, eine bessere.

So wie in diesem Augenblick.

Es existieren keine besseren Worte, um in „Der Albträumer" einzusteigen, als die Ausformulierung einer Idee, die eine Kurzgeschichte hätte werden können und dazu verdammt wurde, keine zu sein.


Als mein Großonkel seine Ausbildung am Gericht begann, lebte er in einem Land, das damals vom wohl berühmtesten und berüchtigsten Diktator geführt wurde, der je gelebt hat. Jedenfalls hat sich kein anderer einen so dauerhaften Ruf wie dieser angeeignet, obwohl es so einige Mitbewerber gegeben hat und heute noch gibt.

Niemand von uns kann den Einfluss und die Macht Hitlers bestreiten, die er bis heute auf Deutschland (und andere Teile der Welt) ausübt und sicherlich auch in weiterer Zukunft noch ausüben wird. Sein perverses Vermächtnis wird bleiben, ob wir es wollen oder nicht. Das echte und unmaskierte Grauen. Und sein Einfluss spiegelt sich wie jede Katastrophe gleichzeitig auf einer allgemeinen und einer individuellen Ebene wider.

Wenn mein Großonkel mir von seiner Zeit während des Zweiten Weltkriegs erzählt, von den Selbstmorden unter seinen Kameraden, vom Lazarett und den Bombeneinschlägen, von seinem Glück im Unglück, nicht wieder zurück an die Front zu müssen, nachdem er genesen war, dann muss ich all meine Fantasie zusammennehmen, um mir vorzustellen, wie das gewesen sein muss. Ich höre, was er sagt und wie er es sagt, manchmal sehr betrübt. Und ich bemühe mich, es nachzuempfinden. Aber das erscheint unmöglich für Menschen wie mich, die niemals einen Krieg erlebt haben.


Der Himmel ist schwarz, eine Dunkelheit hinter der Dunkelheit. Mondlos, sternenlos. Eine Ruhe liegt in diesem Abend, weil die Geschäfte bald schließen werden. Wenige Kunden hechten noch durch das neue Einkaufszentrum, grinsende Hunde hecheln über die Gehwege an der Alster und führen ihre Herrchen und Frauchen Gassi. Leise Gespräche am Wasser, ein Lachen, ein Kuss.

Als würde ein Messer in die Dunkelheit stechen, erscheint ein Licht am Firmament. Dann sind es zwei Lichter, drei Lichter, vier, fünf und mehr. Winzige Punkte zuerst, die stetig größer werden. Sie hinterlassen Lichtstreifen auf ihren Wegen, rasen auf die Stadt zu. Kometen, denke ich, oder Meteoriten. Gibt es da überhaupt einen Unterschied, ich Banause?

Erst als Feuerbälle auf der Erde einschlagen und sie erschüttern, mich erschüttern, denke ich an Bomben. Sicher bin ich mir noch immer nicht. Dann erscheinen weitere Lichter am Firmament, werden größer, ziehen ihre Streifen hinter sich her. Die Turbinen von Flugzeugen brummen über uns hinweg. Ich rieche nichts. Das ist seltsam. Kein Feuer, kein Rauch. Ich dachte immer, einschlagende Bomben müssten nach irgendetwas riechen, nach Gummi vielleicht oder Wunderkerzen. Das Beben der Erde schüttelt mich, bis ich stürze.

Dann erwache ich.


So oder ähnlich beginnt meine ungeschriebene Kurzgeschichte „Kennst du Cloverfield?“. So oder ähnlich war mein Albtraum, der mich zu der Geschichte inspirierte. „Cloverfield“ ist übrigens der Titel eines Kinofilms. In den USA für 30 Millionen Dollar gedreht und 2008 veröffentlicht. Zwei Daten, die nichts über seinen Inhalt aussagen, die einzig und allein einer Einordnung dienen sollen, dass es sich dabei um einen recht aktuellen Film handelt.

In der Regel nämlich, wenn ein Schriftsteller sich in die Filmwelt begibt, dann zitiert er aus Klassikern. Dieses Wort impliziert schon, dass der Film älter sein muss als 2008. Für mich ist „Cloverfield“ aber ein moderner Klassiker, wenn man so will, und zwar aus gleich zwei Genres, von denen das eine recht alt, das andere recht neu ist: er ist ein Monsterfilm im Stil des Found Footage. Zwei Genres zudem, aus denen ernstzunehmende Schriftsteller, um diese skurrile Menschengattung noch weiter einzuschränken, keine einzige Szene zitieren würden, höchstens zur Abgrenzung von ihrer so geschätzten Hochkultur. Es ist der ewige Kampf des Anspruchs gegen die Unterhaltung.


„Cloverfield“ ist ein Film, den mein Großonkel nicht anschauen würde. Zeit seines Lebens, ähnlich dem Verhalten meiner Großeltern und nahezu aller deutschen Senioren, die ich kenne und die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben, diente ihm ausschließlich das deutsche Nachkriegskino, sein Radio und das Fernsehprogramm zur Unterhaltung, zur Ablenkung von einer Realität, der sich niemand von ihnen mehr stellen wollte. Jener grausamen Wahrheit nämlich, dass sie vermutlich alle willfährige Instrumente eines Größenwahnsinnigen gewesen waren, ob gehirngewaschen oder überzeugt, ganz gewiss untergeben, vom Führer verführt und geführt. Die deutsche Nachkriegsunterhaltung war dagegen harmlos, „Cloverfield“ ist es nicht. Weder in seiner Thematik noch in seiner Aussage.
Der Film schildert aus der Sicht einiger junger Menschen, die an einer Abschiedsparty teilnehmen, den Angriff eines Riesenmonsters auf New York. Das klingt nach einer recht herkömmlichen und wenig tiefgründigen Prämisse, entpuppt sich aber aufgrund der Perspektive, die der Film einnimmt, nicht nur als Geisterbahn, sondern auch als durchaus realistisches, weil menschliches Drama. Schließlich erzählt "Cloverfield" so, als ob die Hauptfiguren alles, was geschieht, selbst gefilmt hätten, dass es sich dabei also um später gefundenes, echtes Filmmaterial handelt. Daher stammt die Bezeichnung Found Footage, ein dramaturgischer Kniff, der mit dem Erfolg von „Blair Witch Project“ aus dem Jahr 1998 immer weitere Verbreitung fand. Die Hauptfiguren erscheinen wie aus dem echten Leben, könnte man sagen, und bieten eine Fläche zur Identifikation, die die normale Grenze zwischen Film und Zuschauer beinahe auflöst.
Abgesehen davon, dass ein Monsterfilm zum ersten Mal die Schicksale jener Menschen thematisiert, die man als Zuschauer bisher nur für den Bruchteil einer Sekunde davonlaufen gesehen hat, vermittelt „Cloverfield“ auf eine ziemlich eindringliche Weise ein Gefühl, das an Krieg erinnerte. An den Ausbruch eines Kriegs, als würden Bomben fallen. Nur dieses Mal ist es ein haushohes Monster, das Gebäude zum Einstürzen bringt und Menschen vernichtet, indem es sie unter seinen mächtigen Füßen zertritt.
Eigentlich lehne ich mich an dieser Stelle viel zu weit aus dem Fenster, weil ich nicht beantworten kann, warum ich mich an den Krieg erinnert fühlte, während ich „Cloverfield“ sah. Und was bedeutet das eigentlich, sich erinnert fühlen? Ich kann mich an keinen Krieg erinnern, nicht so wie meine Frau, die aus dem Iran stammt, denn ich lebe in einem Land, das seit bald achtzig Jahren nicht mehr von Kriegshandlungen heimgesucht wurde.


Wenige Tage oder Wochen, nachdem ich mir den Film „Cloverfield“ angeschaut hatte, träumte ich von einem Bombenangriff auf meine Heimatstadt Hamburg. Jenes Gefühl versuchte ich in dem eben skizzierten Anfang einzufangen.

Womöglich können keine Worte der Welt, in welcher Konstellation auch immer, den Krieg so beschreiben, wie er wirklich ist. Aber man kann versuchen, sich ihm anzunähern. Wenn man es denn will. So wie ich mich dem Kriegsbeginn in meinem Traum annäherte. So wie ich mich in einem anderen Albtraum der Tatsache annäherte, Geschäfte plündern zu müssen, wenn alle anderen Einwohner es im Angesicht eines Krieges oder einer anderen Katastrophe ebenfalls tun.

Wenn man keinen Vorrat für mehrere Wochen mehr zur Verfügung hat, dann muss man raus aus seinem Versteck und auf die Jagd nach Beute gehen. Seien es nur Konserven und Wasserflaschen aus dem Supermarkt, einem Gebäude, dessen Fenster bereits eingeschmissen sind, bei dem man von außen nicht erahnen kann, ob die anderen Plünderer noch etwas übriggelassen haben. Ungewiss ist auch, ob sich welche vielleicht dort drinnen verschanzt haben und dich als Eindringling betrachten werden.

Heute bin ich überzeugt, dass uns Albträume auf extreme Situationen vorbereiten wollen. Oder ich pflege die Hoffnung, dass es so ist. Für behütet aufgewachsene Menschen aus dem Westen jedenfalls.


Wenn wir in der Nacht einem Stress ausgesetzt sind, der sich grotesk von dem unseres Alltags unterscheidet, ausgelöst durch Krieg, Folter und anderen Begebenheiten, die man niemandem wünscht, dann können wir erahnen, wie es sein wird, diese üblen Dinge wirklich zu erleben. Wir bekommen eine Vorstellung von den Gefühlen, die wir durchleben würden, und dann können wir uns abhärten. Wir meinen zu wissen, was auf uns zukommt. Und wir üben, es zu ertragen. Doch erzähle jemandem von dieser Erkenntnis, der Angst vor seinen Träumen hat, weil er manchmal nicht mehr unterscheiden kann, ob er wach ist oder nicht. Glaubst du, ihn würde das beruhigen?


Mein Großonkel erzählte mir vor einiger Zeit, dass die Einrichtung, in der er seit ein paar Jahren lebt, überfallen worden war. Es war gar nicht so lange her, natürlich geschah es in der Nacht. Eine Gruppe Bewaffneter drang durch den Hintereingang ein. Diese Leute waren wahrscheinlich maskiert. Jedenfalls konnte mein Großonkel ihre Gesichter nicht erkennen (dass er beinahe blind ist, einmal beiseite gelassen). Ob sie einer politischen oder anders gesinnten Gruppe zugeordnet werden können, ist nicht nachvollziehbar und das spielt auch keine Rolle. Sie fielen in das Gebäude ein und nahmen alle Bewohner als Geisel. Wie sie das anstellten, ohne dass jemand die Polizei rief, zum Beispiel die Nachtwache am Empfang, erschließt sich ebenfalls nicht.

Die Bewaffneten zwangen die Bewohner, sich vollständig zu entkleiden und ihre Sachen auf einen Haufen zu legen. Dann löschten sie das Licht. Jede der Geiseln musste in vollkommener Dunkelheit aus dem Berg an Klamotten ihre eigenen finden. Wer es als erster schaffte, hatte gewonnen. Was mit den Verlierern geschehen würde, weiß ich nicht.
Mein Großonkel hat den Überfall überlebt, selbstverständlich, sonst hätte er nicht davon berichten können. Oder anders gesagt: er ist wieder aufgewacht. Auch wenn er sich zuerst nicht sicher war, ob die Geiselnehmer noch irgendwo in den dunklen Schatten seines Appartements auf ihn lauerten, ob sie ihn in falscher Sicherheit wiegten, weil er plötzlich wieder angezogen im Bett lag.

Um Traum von Realität zu unterscheiden, vergewisserte er sich schließlich seiner Umgebung. Dort war der Tisch, an dem er die meiste wache Zeit seines Lebens verbrachte. An Fernsehen war nämlich seit längerem nicht mehr zu denken. Auf dem Tisch, so glaubte er schemenhaft vom Bett aus zu erkennen, standen der Obstteller und die Leselampe, in der Mitte lagen die Reste einer Tageszeitung, die er noch versuchen wollte zu lesen. Seit geraumer Zeit half ihm nicht einmal mehr seine Vergrößerungslupe dabei, einen längeren Artikel in seiner Ganzheit zu erfassen.

Mein Großonkel griff neben sich, zum Stuhl, der ihm als zweiten Nachttisch diente, auf dem seit neuestem ein seniorengerechtes Radio mit wenigen Tasten stand. Er griff nach einem kleinen, grauen Gerät, das daneben lag und genau eine Funktionstaste hatte. Als er es in seinen Händen hielt, drückte er darauf.

Eine mechanische Stimme teilte ihm die Uhrzeit mit. Zu früh, um aufzustehen, und zu spät, um noch einmal einzuschlafen. Also blieb mein Großonkel im Halbdunkel liegen, nach diesem Albtraum, wie auch nach anderen Albträumen, und ließ die Gefühle, die er ausgelöst hatte, auf sich wirken, fragte sich, womit er es verdient hatte, einsam in der Nacht zu erwachen, gehetzt und gedemütigt.

Er blieb so lange liegen, bis er entschied, es sei schließlich Zeit, sich frisch zu machen und anzuziehen für einen Tag, der denen davor und denen, die noch kommen sollten, ähnelte, ja, in den meisten Details sogar glich.

Der Albtraum oder die Albträume blieben manchmal seine einzige Abwechslung.


Ob er sich auf den Weg machen soll, fragte er sich dann, angezogen war er ja schon, und auf den Flur hinaustreten, sich die Beine vertreten, vielleicht einen kurzen Gang an den Büros der Verwaltung entlang, dann den Fahrstuhl hinunter zum Eingang, an den Tresen treten, die Nachtwache nach der Speisekarte für die kommende Woche fragen. Wenn er auf seinem Weg im Gebäude, der stets zu einer gefährlichen Reise werden konnte, von anderen gefragt wurde, wohin er denn wolle, dann würde er ihnen antworten: nach Hause.

Ich will nach Hause.

Weil er sich hier in der Einrichtung nicht mehr zu Hause fühlte, würde er nicht sagen. Das braucht er auch nicht, man ahnt es. Er fühlt es. Das ist nicht immer so, aber manchmal, besonders nachts, wenn ihn seine Albträume aufgeweckt haben.


Letztens fragte er mich, als er davon sprach, nach Hause zu wollen, wo er denn hinsollte, wenn nicht hierher, in diese Einrichtung? Wo war es denn, sein eigentliches Zuhause?

Man sagt, Zuhause ist, wo dein Herz ist. Und das Herz meines Großonkels schlägt für die Nächte, weil die Tage genauso dunkel sind wie sein Leben. Das ist der Winter, um genau zu sein, der zweite Winter während einer weltweiten Virus-Pandemie. Was die täglichen Nachrichten mit ihm angerichtet haben, spiegelt sich in den Träumen. Auch seine Erinnerungen an die Hitler-Zeit, die ihm geblieben sind, finden sich darin wieder. Hier haben wir die echten Dämonen und keine ausgedachten Elemente einer Horrorgeschichte.


Die Helden des Films „Cloverfield“, wenn man sie so nennen möchte, werden am Ende alle tot sein.

Die Geschichte hat kein Happy End. Warum sollte die Geschichte meines Großonkels eines haben? Warum sollte es meine oder irgendeine andere haben? Niemand hat darauf einen Anspruch. Und was wäre in diesen Tagen eigentlich ein Happy End? Sie lebten glücklich bis ans Ende aller Tage? Sterben müssen wir doch alle. Glücklich sterben tun die wenigsten. Jeder hofft, dass es nicht lange dauern wird, wenn es so weit ist. Am liebsten möchte man einschlafen und nicht mehr aufwachen, und davor bitte keine allzu großen Schmerzen oder andere Beschwerden erleiden. Das ist erstrebenswert. Kein Krebs, keine Folter, kein unnötig in die Länge gezogenes Leid. Kein Krieg. Ein einfacher Wunsch. So leicht gesagt und gedacht, dass er fast lächerlich scheint.

 

Pandemien, Kriege, Umweltkatastrophen, Hunger und Not. Die Nachrichten waren und sind voll damit. Wer sich darauf einlässt und den Zustand unserer Weltgemeinschaft jeden Tag verfolgt, wird nicht mehr glücklich. Und die digitalen Ventile unserer Zeit machen alles nur noch schlimmer.
Diese Phänomene drücken auf das Gemüt von vielen Menschen, doch keine andere Gruppe mag unser Verständnis mehr verdient haben als die der Alten, der Senioren, also jener, die bereits ihr ganzes Leben hinter sich haben und nun während ihrer verbleibenden Zeit vor dem unvermeidlichen Ende (ob happy oder nicht) noch ein wenig Ruhe benötigen. Sie wollen unsere Zuneigung und nicht die Panik.

Wenn ich meinem Großonkel sage, dass ich Verständnis für seine Ängste habe, schließlich hat er bereits einen Krieg miterlebt, er kennt sein Land im Ausnahmezustand, mit all den Entbehrungen und anderen Übeln, dann erblicke ich Tränen in seinen Augen, schaue auf seine faltigen, verkrümmten Hände, die nicht nur wegen des Alters plötzlich zittern.
Kein Mensch hat es verdient, als Klammern seines Lebens zwei Kriege zu erhalten. Und doch frage ich mich, wie das wohl wäre. Und wie es wohl den Menschen ergangen ist, die den Frieden als Klammer hatten, niemals die Entbehrungen, die Verluste kennenlernten. Ging es ihnen vielleicht besser, auch wenn ihre Leben kürzer waren? Kann man ein Leben mit einem anderen vergleichen, und sollte man das?

Manchmal frage ich mich, ob ich die schwierigen Themen direkt ansprechen soll, wenn ich ihn besuche. Manchmal frage ich ihn nach den Albträumen, weil sie mich interessieren, weil mich selbst Albträume heimsuchen, öfter als mir lieb ist. Manchmal aber bin ich davon überzeugt, nur das Schöne ansprechen zu dürfen. Und dann erzählt er von allein.


Die Frage „Kennst du Cloverfield?“ stellt die Hauptfigur in meiner nicht geschriebenen Kurzgeschichte seinem Großvater. Und dieser antwortet seinem Enkel mit einem verständnislosen „Nein“. Vehementes Kopfschütteln.
„Was soll das denn sein?“, fragt der Großvater vielleicht, weil ihm englische Wörter suspekt sind, von der Aussprache ganz zu schweigen. Die Kombination der Buchstaben scheint den Lauten zu widersprechen, die beim Reden erzeugt werden. Und einheitliche Regeln gibt es wohl auch nicht. Cloverfield heißt das Kleefeld auf Deutsch, ein recht harmloser Ausdruck, der in einer fremden Sprache viel gefährlicher klingt.
Der Enkel, nicht älter als vierzehn Jahre, hat vor einiger Zeit eben jenen Monsterfilm gesehen und nun erzählt er seinem Großvater davon. Eine geradezu kindliche Begeisterung, die unbedingt in die Welt getragen werden muss. Was er gefühlt hat, als er den Film sah. Das muss er loswerden. Es war wie in einem Krieg, würde er sagen, und dann hat er sogar davon geträumt. So wie ich davon träumte, nachdem ich „Cloverfield“ gesehen habe.
Während sie darüber sprechen, gehen sie spazieren, wie sie es öfters tun, wenn der Enkel den Großvater nach der Schule besucht. Seit dem Tod der Großmutter müssen sie mit sich allein zurechtkommen, essen Mittag zusammen, reden über die Schule, über das Leben, schauen gemeinsam fern. Vorher haben sie nicht viel miteinander geredet, das hatte die Großmutter übernommen. Sie war das Bindeglied in ihrer Mitte gewesen, das jetzt fehlt, und bevor dieses fragile Konstrukt ganz auseinanderfällt, erinnern sie sich an einen familiären Verbund, der weiter erforscht werden muss.

Jetzt sind sie in einem Park und der angesprochene „Opa“ bleibt abrupt stehen, als er das Wort „Krieg“ vernimmt. Er lehnt sich auf seinen Stock, denn seit zwei Jahren macht ihm das fehlende Gleichgewicht zu schaffen. Er will zu einer Bank, sich setzen, aber zuvor muss er seinem Enkel antworten.
„Ich war im Krieg, Junge. Ich habe das wirklich miterlebt.“
Die Worte klingen wie eine Rüge. Was willst du mir hier eigentlich erzählen, Junge? Dafür brauche ich keinen Film.
„Ich weiß, Opa. Tut mir leid. Der war nur so spannend.“
„Der Krieg ist nicht spannend. Bist du bescheuert?“
Wortlos gehen sie weiter bis zur Bank und setzen sich dann. Der Großvater holt die Butterbrote aus seiner Tasche, gibt eines seinem Enkel. Schweigend essen sie, schweigend beobachten sie das Leben im Park.


Später wird der Enkel den Großvater bitten, ihm vom Krieg zu erzählen, und es wird seine Weile dauern, bis dieser einwilligt. Vielleicht ergibt sich auch eine schwierige Szene in der Schule. Der Enkel gerät in eine Schlägerei. Jedenfalls erzählt der Großvater in vielen Details von seinen Erfahrungen. Doch die Moral von der Geschichte? Wenn es unbedingt eine braucht, natürlich, Filme kopieren nur die Realität, versuchen sich, wie andere Kunstformen auch, anzunähern, versagen manchmal und manchmal nicht. Auch wenn das Gehirn bei betrachteter Gewalt genauso reagiert, als würde es echte Gewalt erfahren, die Situation ist nicht dieselbe, nicht in der Sicherheit auf dem Sofa oder im Kinosessel. Irgendwo dazwischen, zwischen der künstlichen Erfahrung des Films und der realen Erfahrung im Hier und Jetzt, liegt das Reich der Träume.


In manchen Nächten wache ich in einem Rhythmus von neunzig Minuten regelmäßig aus Träumen auf. Dieser Rhythmus gehört zum Schlafen dazu, nur dass die meisten Menschen nicht bemerken, wenn sie kurz erwachen, um dann in den nächsten Zyklus einzutauchen. Anders bei mir. Ich bin mir sehr bewusst, dass ich wach bin und dann brauche ich Minuten, um wieder einzuschlafen. Manchmal erinnere ich so mehrere Albträume innerhalb einer einzigen Nacht. In dem Augenblick des Erwachens erinnere ich sie in all ihren Details. Details, die ich später gerne wieder erinnern würde, was ich aber nicht mehr tue. Frage mich heute und ich kann dir nicht mehr sagen, welche Nachtmahre mich in den letzten Wochen aufgesucht haben. So oft, dass ich schon glaubte, unter einer Schlafstörung zu leiden.


Manchmal träumt mein Großonkel regelmäßig denselben Traum, so wie den Überfall auf die Einrichtung, in der er wohnt. Drei Nächte hintereinander, meinte er, hätte er diesen Traum gehabt. Und was kann realer sein als die Gefühle, die so ein Traum auslöst? Besonders dann, wenn der Alltag, eingeschränkt durch mangelnde Seh- und Hörkraft und einer allgemeinen Schwäche des Körpers, eintönig und einsam ist. Wenn die einzigen Interaktionen jene aus den Träumen bleiben, wenn meinem Großonkel wiederholt Befehle erteilt werden, wie von einem Diktator. Nur diesmal liegt dieser Tyrann in einem selbst. Das Innere des Kopfes wird zu einem Hitler, der eine Realität vorgaukelt, wenn alles doch ganz anders ist. Eine Diktatur des Schlafs.


Um sich mit Albträumen wirklich vorbereiten zu können, auf welchen Ausnahmezustand auch immer, muss man also zwischen Traum und Realität unterscheiden können. Doch wie soll das möglich sein, mitten in der Nacht, wenn du von einem Fremden, oder schlimmer noch, von jemandem, den du kennst, der dir eigentlich helfen soll, am ganzen Körper mit Vanillepudding eingerieben wirst, während du deinen Pyjama trägst? Wie sollst du das von der Realität unterscheiden?
Vielleicht mit der gleichen Methode wie oben beschrieben. Vergewissere dich, was wirklich um dich ist, die Bettdecke und der Nachttisch, das Buch darauf. Dort hinten der Tisch, auf dem einen Blumenvase steht, und dort sind deine Aktenordner. Fasse an deinem Körper hinab, ob die klebrige, glitschige Substanz noch an dir haftet oder ob du trocken bist.


Ich glaube, Albträume werden intensiver, je weniger du die Kontrolle über dein Leben hast. Oder, besser formuliert, je weniger du glaubst, Kontrolle über dein Leben zu haben. Als Obergerichtsvollzieher war mein Großonkel viele Jahre, Jahrzehnte zu Fuß in seinem Bezirk unterwegs, immer dabei hatte er seine Aktentasche, die frische Luft, die Freiheit. Manchmal fuhr er Fahrrad, manchmal mit der Bahn. Er war immer mobil, unabhängig. Jetzt, in der Senioreneinrichtung, in einem kleinen Appartement, körperlich so eingeschränkt, dass an Spazieren nicht mehr zu denken ist, wacklig auf den Beinen, zu wenig frische Luft, lebt er in einer Unfreiheit, an die er sich nicht gewöhnen will, die er nicht akzeptieren kann.

Und hat er früher unter Albträumen so gelitten wie heute? Ich glaube nicht.
Immer wieder wird er von jemandem verfolgt und vor allem gefangen genommen, muss stundenlang in einer Zelle oder einem kleinen Raum ausharren, gefesselt an einen Stuhl, darf nichts essen. Die Blase entleert sich irgendwann von selbst. Er lebt in der Nacht wieder in jener Diktatur, in der er erwachsen wurde. Manchmal plagen ihn Schuldgefühle, er hätte mehr tun können, aufstehen, Widerstand leisten. Wenn schon nicht im großen Ganzen, gegen Hitler, den Diktator, so dann wenigstens im Kleinen, in der Familie, gegen seinen Vater, den Tyrann, als dieser meine Großmutter mit einer Reitergerte verprügelte.


Albträume einzig und allein als eine Art Vorbereitung auf extreme Situationen zu begreifen, ist natürlich romantischer Quatsch. Albträume verfolgen uns auch und gerade dann, wenn unser Gehirn extreme Situationen verarbeiten will, die wir bereits erlebt haben. Nicht selten scheitert es daran.

Ich wünschte nur, ich könnte alle Erfahrungen machen, die es gibt. Wenn schon nicht in meinem Leben, so dann wenigstens im Schlaf. Damit ich darüber schreiben kann, als hätte ich sie wirklich erlebt. Doch meinem Großonkel wünsche ich das genaue Gegenteil. Er hat Ruhe verdient.


Wenn ich ihn in diesen Zeiten besuche, liegt er meistens in seinem Bett, die Augen geschlossen. Ich weiß dann nicht, ob er döst oder in einen Tiefschlaf gefallen ist. Oder einfach nur seine Augen geschlossen hält, weil alles andere zu anstrengend geworden ist. Er soll am Tage nicht so viel schlafen, sagen sie ihm, sonst streunt er die Nächte wieder herum auf der Suche nach seinem richtigen Zuhause.

Manchmal aber treffe ich ihn sehr lebendig an. Dann sitzt er in seinem Sessel und entziffert mit seiner minimalen Sehkraft irgendeinen Artikel in der aktuellen Tageszeitung. Dann kündige ich mich mit einem lauten Klopfen gegen den Türrahmen an, und mit einer noch lauteren Begrüßung. Mal ist er ganz erschöpft, vom Lesen, vom Leben, vom Warten, und manchmal so lebendig wie er mit Anfang Achtzig war, als ich begann, ihn regelmäßig zu besuchen. Damals half ich ihm im eigenen Haushalt, ein wenig Ordnung zu finden in einer Welt, die langsam im Chaos versank.

 

Seine Ordner wird er wieder umräumen, wenn ihm danach ist. Auch anderes hat er schon öfter umgeräumt, sehr zum Leidwesen meiner Mutter, die als Einzige die gesamte Lage überblickt. Soll er doch, denke ich mir manchmal. Solange mein Großonkel umräumen will und winzigen Veränderungen nicht abgeneigt ist, wird er nicht in jenem Sumpf versinken, in den so viele alte Menschen geraten und den sie dann nicht mehr verlassen, Resignation. Dorthin wünsche ich ihn jedenfalls nicht. Jede Falte auf seiner Haut und jeder Fleck auf seiner Kleidung erzählt Geschichten, vom Leben und vom Schlafen. Vielleicht ist beides synonym. Genauso wie Verzweiflung und Hoffnung Geschwister sind.

 

*Meinem Großonkel zum Geburtstag. Er wird heute 101 Jahre alt.*

 

(c) 2024 Christian Sidjani
Geschrieben in Hamburg, in der Zeit vom 18. März bis zum 8. April 2022

Überarbeitet im März 2024