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"Bleeding Edge" von Thomas Pynchon

Lieber Thomas,
vor dir und deinem Werk hatte ich mich immer etwas gefürchtet. Wahrscheinlich weil ich wusste, dass du mir die Augen öffnen würdest.

All die Legenden und Gerüchte, die sich um deine Bücher im Laufe der Jahrzehnte gesponnen haben, schreckten mich im gleichen Maße ab wie sie mich faszinierten. Vor allem, weil die Rede davon war, dass deine Werke schwer zugänglich und ja, schwer zu lesen seien.

Du würdest Dutzende, wenn nicht Hunderte Figuren einführen, die alle ihre Bewandtnis hätten. Manche würden plötzlich anfangen zu singen, andere durchlebten äußerst seltsame Sexszenen, zwischendurch quältest du den Leser mit enzyklopädischen Einträgen über mehrere Seiten hinweg, oder du erzähltest seltsam infantile Witze. Du seist sozialkritisch, allwissend, abschweifend. Oder um es kurz zu machen: als ehemaliger Schüler Nabokovs seist du der archetypische Vertreter der sogenannten postmodernen Literatur, ein Vertreter der Maximalist Novel etc. pp.

Unabhängig davon spiegelt sich deine Vorliebe für die Paranoia-Thematik in deiner Entscheidung, dich bereits in den 60ern aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen, und das bis heute konsequent. Wenn man bei all diesen Beschreibungen keine Angst vor dir und deinem Werk bekommt, dann weiß ich auch nicht.

Meinen halbherzigen Versuch mit „Mason & Dixon“ Anfang der 2000er Jahre kann ich nicht wirklich als eine Annäherung an dich bezeichnen. Es war der 20. Oktober 2014, der alles für mich verändert hat. Ich steckte gerade in einer Schaffenskrise, weil ich mehr und mehr für den Markt als für mich selbst schrieb, als ich deinen neuesten Roman „Bleeding Edge“ in der Thalia-Filiale in der Europa Passage am Jungfernstieg entdeckte. Im September war der Roman gerade auf Deutsch erschienen. An jenem Tag fühlte ich mich mutig, also kaufte ich ihn.

Um meine ersten Eindrücke von deinem Werk am besten wiederzugeben, mache ich heute mal eine Ausnahme und zitiere das Fazit aus meiner eigenen Rezension, die ich neun Tage nach dem Erwerb, also am 29. Oktober 2014 veröffentlichte:

„Ich wollte sofort nach der letzten Zeile wieder von vorne beginnen, um "Bleeding Edge" ein weiteres Mal zu genießen und noch viel mehr zu entdecken, mehr zu verstehen, aber dann hat mich der Pynchon-Virus infiziert und jetzt lese ich endlich, nach all den Jahren, "Die Enden der Parabel". Noch komplexer, noch undurchschaubarer, besser als "Ulysses". Warum hatte ich je Angst vor Pynchons Werk? Vielleicht weil ich wusste, dass ich alles andere dann liegen lasse und erstmal nur seine Werke lesen möchte.“

Und so ist es dann auch gekommen, lieber Thomas. Die nächste Zeit war ich erstmal damit beschäftigt, dein Werk weiter für mich zu entdecken. Am liebsten würde ich hier auf alles eingehen, dass du je geschrieben hast, aber ich habe ja nicht einmal den Inhalt des Buches vorgestellt, um das es heute geht. Vielleicht brauche ich das gar nicht. Jeder sollte dich auf seine Weise entdecken, ohne zu viel vorher zu wissen. Nur diese unbestimmte Angst, wie vor dem Erklimmen eines mächtigen Bergs, diese Vorfreude gepaart mit Panik, reicht als Motivation vollkommen aus.

Deine Bücher, dein gesamtes Werk, haben mir eine völlig neue Sicht auf Literatur ermöglicht. Mein Lesegeschmack und mein Leseverhalten haben sich seit dem Tag im Oktober 2014 grundlegend verändert. Ich bin der Meinung, dass ich erst dann begriffen habe, was Literatur wirklich ist. Was sie bewirken kann. Du hast den Schleier endgültig gelüftet, und dafür kann ich dir niemals dankbar genug sein.

*Der Sonntag gehört meinen Lieblingswerken aus den Bereichen Film, Literatur, Musik, Malerei und Games.*

 


Hier ist ein großartiger Trailer des Rowohlt-Verlags zur Veröffentlichung von "Bleeding Edge", der wunderbar das Mysterium Thomas Pynchon aufgreift und auch persifliert:

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