· 

Wer hat Angst vor Thomas Mann?

Abgeschreckt vom komplexen Schreibstil wird Thomas Mann, so scheint es, heutzutage recht wenig gelesen. Dabei gibt es eigentlich einen ganz anderen Grund, warum einer der berühmtesten und wichtigsten deutschen Schriftsteller aller Zeiten dir Angst einflößen sollte.



Von Gewalt überrascht

Nachdem ich in den vergangenen acht Jahren sämtliche Romane von Thomas Mann gelesen habe, bleiben mir "nur" noch seine kurzen Geschichten zum erstmaligen Entdecken, 33 an der Zahl. Okay, den "Tonio Kröger" kenne ich schon, also bleiben noch 32. Letzte Woche habe ich mit den ältesten Texten begonnen, die er hauptsächlich mit Anfang Zwanzig geschrieben hat.

"Der Wille zum Glück" enthält die Erzählungen 1893-1903
"Der Wille zum Glück" enthält die Erzählungen 1893-1903

Besonders ein Text hat mich wegen seiner unverfrorenen Gewaltdarstellung überrascht: "Tobias Mindernickel". So harmlos niedlich der Titel anmutet, so abstoßend ist sein Inhalt.

 

Je mehr ich dann darüber nachdachte, desto mehr Szenen solcher Gewalt erinnerte ich aus den Werken, die ich bisher von ihm gelesen habe, so z.B. der Stierkampf in "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull", das Duell zwischen Naphta und Settembrini in "Der Zauberberg", die Beschneidungsszene in "Joseph und seine Brüder" oder der Mord in der Straßenbahn in "Doktor Faustus". Manches blutig, manches grotesk, manches tragisch. Doch jedesmal sind diese Szenen Gewaltspitzen, wie man sie sonst vielleicht aus dem Genre-Kino kennt.

 

Beim Wiederentdecken seiner Romane, das ich mir spätestens für das nächste Jahr vorgenommen habe, werde ich sicherlich noch auf viele weitere solcher Szenen stoßen, die beim ersten Mal im Fluss der Sprache und der Geschichte lediglich als Teil des Ganzen wahrgenommen wurden. Doch es geht nicht nur um die Gewalt, die mich vor allem in "Tobias Mindernickel" so überrascht hat.

 


Das große Scheitern

Mit dem Buch "Der kleine Herr Friedemann: Sechs Novellen" startete 1898 die Zusammenarbeit zwischen Thomas Mann und dem Fischer-Verlag, dem der Autor bis zu seinem Tod treu geblieben ist. Wie der Titel des kleinen Buches bereits besagt, enthält es insgesamt sechs Geschichten, geschrieben übrigens in der Zeit von 1896 bis 1898, also noch bevor Thomas Mann seine Arbeit an den "Buddenbrooks" aufnahm (ein Roman, der übrigens auch die eine oder andere Gewaltspitze beinhaltet).

Cover der Neuauflage 2021, enthält nur die Titelgeschichte
Cover der Neuauflage 2021, enthält nur die Titelgeschichte

 Dies war der Inhalt von Thomas Manns erstem Buch:

 

Der kleine Herr Friedemann

Der Tod

Der Wille zum Glück

Enttäuschung

Der Bajazzo

Tobias Mindernickel

 

Es sind also frühe Texte, in denen dem Autor noch jegliche ironische Distanz zum Inhalt fehlt, die ihn später so auszeichnen sollte. Stattdessen findet der geneigte Leser hier einen offen zur Schau getragenen, fast obszönen Todestrieb. Einige Texte tragen ihn bereits im Titel.

 

Die Figuren leiden und/oder sterben an ihrem Außenseitertum, an den Anforderungen der Gesellschaft, an unerwiderter Liebe, an sich selbst. Zuweilen grausam und auch selbstbemitleidend, mehr der Romantik als dem damals bereits aufgekommenen Realismus verpflichtet.

 

Die bösesten Geschichten in dieser unscheinbar wirkenden Sammlung tragen die harmlosesten Titel: "Der kleine Herr Friedemann" und "Tobias Mindernickel". Erstere Geschichte soll der Leser selbst für sich entdecken, sie ist gemein. Mir geht es heute wie erwähnt um die andere, die letzte Geschichte, die in meiner Ausgabe von "Der Wille zum Glück" gerade zehn Seiten umfasst.

 


Tobias Mindernickel, der Tierquäler

Bei so gut wie allen Werken von Thomas Mann gibt es einen ganzen Rattenschwanz an Interpretationen und Deutungsversuchen, bei denen man sich zeitweise den Einsichten anderer Schriftsteller, Philosophen und ähnlichen Gestalten bedient. So findet man bereits bei einer kurzen Suche im Internet Aufsätze, in denen "Tobias Mindernickel" wahlweise mit Schopenhauer oder Sartre näher betrachtet wird.

 

Das interessiert mich nicht, wenn ich über die Geschichte sprechen möchte. Interessanter sind da germanistische und andere wissenschaftliche Aufsätze und Publikationen über "Tobias Mindernickel", die einzelne Aspekte herausgreifen und beleuchten: die Rolle des Außenseiters, Leben und Tod, psychische Störungen usw.

 

Doch auch das interessiert mich eigentlich als Leser nicht, der einfach eine Geschichte auf sich wirken lassen will. Stimmt doch, nicht wahr? Also sind da plötzlich nur noch ich und das Buch (und eine Lesebrille):

Illustration von Sabine Seidemann
Illustration von Sabine Seidemann

Wie so viele andere Figuren von Thomas Mann ist auch Tobias Mindernickel äußerlich auffällig, entspricht also nicht der Norm. Womöglich wurde er wegen seines Äußeren auch nie von anderen gemocht oder geliebt. Ihm wird Höhnisches nachgerufen, wenn er die Straße entlang geht. Vor allem die Kinder treiben seine Scherze mit ihm.

 

Als eines der Kinder sich einmal verletzt, hilft Mindernickel ihm. Aber die neu gewonnene Sympathie hält nicht lange vor und er wird alsbald wieder gehänselt und verhöhnt. Wie auch in anderen Geschichten versteht Thomas Mann es also, trotz einer gewissen Lächerlichkeit der Figur, ein Mitgefühl mit ihr zu erwecken, ein Verständnis. Und den Leser, mich, fällt eine gewisse Traurigkeit anheim.

 

Dann kauft Tobias Mindernickel sich für zehn Mark einen Hund auf der Straße. Er bezahlt rasch, "ergriff die Leine und zerrte eilig, gebückt und scheu um sich blickend, da einige Leute den Kauf beobachtet hatten und lachten, das quiekende und sich sträubende Tier hinter sich her". Erst mit etwas zu essen und zu trinken gewinnt Mindernickel das Vertrauen des Hundes, den er Esau nennt. Und er erfreut sich an ihm, ist er doch endlich nicht mehr allein.

 

Doch wehe, der Hund tollt herum und hört nicht auf sein Herrchen. Dann wird er misshandelt, bis Ruhe ist. Es ist ein Unfall, als Tobias Mindernickel dem Hund ein Messer in den Leib rammt, und es tut ihm auch so sehr leid. Am meisten aber genießt er, sein Tier gesund zu pflegen. Dann ist Esau ganz ruhig und dankbar.

Als der Hund schließlich genesen ist und wieder herumtollen kann, wird es Mindernickel zu viel. Diesmal sticht er das Tier bewusst ab. Er kann es ja wieder gesund pflegen. Doch Mindernickel weint "bitterlich", als er bemerkt, er hat es zu weit getrieben. Der Hund ist tot, die Geschichte vorbei.

 

Diese unerwartet grausame Handlung, die ab ungefähr der Mitte ihrem "bitteren" Ende entgegen läuft, hat mich also überrascht, weil Thomas Mann hier bereits mit Erwartungen spielt und eine komplexe Figur auf wenigen Seiten entwickelt. Nicht nur das, er löst mit dieser Geschichte auch komplexe Gefühle im Leser aus. So ist es jedenfalls bei mir gewesen.

 

Passend illustriert übrigens wurde die Geschichte in sieben Bildern von Sabine Seidemann. Sie fangen sehr gut die Stimmung, dieses bedrückend Traurige ein. Klickt auf das Bild, um auf ihre Seite zu gelangen.

 

Thomas Mann war keineswegs "nur" Literat, sondern auch ein Geschichtenerzähler. Zu welchen Höhepunkten diese Dualität später noch führen sollte, wissen wir ja.


Dieselbe Medaille

Natürlich beinhaltet Thomas Manns Werk viel mehr als nur Abbilder von Gewalt, Schuld und Scham. Der geneigte Leser findet hier genauso Schwärmereien, große Liebe, Emanzipation und immer wieder die Künste und das Künstlerleben. Und noch so vieles mehr an Themen, das an dieser Stelle den Rahmen sprengen würde (wie wäre es mit einem eigenen Blog-Eintrag über den Realismus in seinen Texten, der ihm ständig die Kritik einbrachte, er könnte sich nichts selbst ausdenken?).

 

Nicht nur sein Sprachstil also ist komplex, auch seine Geschichten selbst sind es, vor allem seine Romane natürlich. Dafür sind längere Texte schließlich geschaffen. Das unterscheidet ihn meiner Meinung nach von vielen aktuellen, deutschen Literaten, von denen die meisten in ihrem Stil zwar einzigartig sein können, aber darüber hinaus nicht viel oder immer nur das Gleiche zu sagen haben.

 

Thomas Mann ist es wert, mit unserem heutigen Wissen gelesen zu werden, wo er zeitlos geblieben ist und wo er antiquiert wirkt. Und ob beides nicht eigentlich nur zwei Seiten derselben Medaille ist.


 

Wer "Tobias Mindernickel" jetzt nachlesen möchte und entscheiden, ob ich richtig liege oder übertreibe, der kann die Geschichte entweder als E-Book für 99 Cent erwerben, oder als Teil der Kurzgeschichten-Sammlung "Frühe Erzählungen 1893-1912" aus dem Fischer-Verlag.

 

Dieses Buch fasst auf gut 600 Seiten die beiden Einzelausgaben "Der Wille zum Glück" und "Schwere Stunde" zusammen und enthält auch die weltberühmten Novellen "Tonio Kröger" und "Der Tod in Venedig". Es kostet 18 Euro und ist über den Buchhandel zu beziehen.

 

Das ist keine Werbung, aber eine Empfehlung. Man muss Thomas Mann nicht lesen, aber man kann. Und diese Wahl haben nicht alle.

 

Ich liebe Thomas Manns Werk, weil es sprachlich fasziniert und aufgrund seiner Komplexität zum wiederholten Lesen einlädt. Aber wie steht es mit dir? Traust du dich? Oder hast du noch Angst?

 


Kommentar schreiben

Kommentare: 0