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"Kult" von Gunilla Jonsson & Michael Petersén

Liebe Gunilla, lieber Michael,

ein Freund machte mich damals auf euer Rollenspiel-System aufmerksam. Und damit infizierte er mich mit eurem Erzähl-Virus.


Es war der Sommer 1993, euer Buch war frisch auf Deutsch erschienen, und ich wusste, was Rollenspiele (Pen&Paper) waren, weil ich bereits im Kindergarten mit DSA und über die Bücherhalle mit D&D in Berührung gekommen war. Ich besaß ein Starter-Paket von "Auf Cthulhus Spur" (mit 20er Würfel) und kaufte regelmäßig die Abenteuer-Spielbücher von Livingstone und Jackson. Und trotzdem hatte mich all das nicht darauf vorbereitet, mit welcher Wucht mich "Kult" treffen würde.

 

Weder davor noch danach ("Shadowrun", "Werewolf") habe ich in meinem Leben ein besseres System gefunden als eures, das den Teil meines Gehirns, der ständig Geschichten erfinden muss, mit genau den richtigen Impulsen füttert. "Kult" war zu dem Zeitpunkt, als ich es entdeckte, die Quintessenz von allem, was ich erzählen wollte. Düstere, brutale Geschichten aus einer parallelen Welt, die der unseren (in den 90er Jahren) zwar ähnelte, aber unmöglich sein konnte.

 

1993 wurde dadurch zu meinem Jahr, obwohl ich eine Klasse wiederholen musste. Erst hatte ich Billy Idol für mich entdeckt und dann euer Buch. Oder umgekehrt, ich weiß es nicht mehr. Beides zusammen ergab eine perfekte Symbiose für die Sommerferien. Und so bereitete ich mich auf das neue Schuljahr vor.


An diesem Schreibtisch verbrachte ich den Dänemark-Urlaub mit der Kult-Lektüre
An diesem Schreibtisch verbrachte ich den Dänemark-Urlaub mit der Kult-Lektüre
Das jüngere Ich freut sich auf die nächsten Lesestunden
Das jüngere Ich freut sich auf die nächsten Lesestunden


Liebe Gunilla, lieber Michael, ohne euer Buch hätte ich womöglich niemals jene Freunde und Bekannte gefunden, jene große Clique, die sich über die Zeit formte (auch wenn sie heute nicht mehr existiert). Ja, ohne euch wäre dieser häufig in sich gekehrte Geschichtenerzähler nie aus sich herausgekommen.

 

Es war noch immer 1993, das neue Schuljahr hatte begonnen und ich lebte weiterhin in zwei Welten. Einmal im ach so langweiligen Hamburg mit seinen banalen Anforderungen des Alltags und zum anderen in der Welt von "Kult", dessen Regelwerk ich über die Zeit auch mit allen veröffentlichten Ergänzungen erweiterte. Billy Idol lieferte den Soundtrack dazu, während ich das Material wieder und wieder las.

 

Ich hatte alles, vor allem Ideen, jetzt brauchte ich nur noch Leute, mit denen ich spielen konnte. Es war mein Jahr, wie gesagt, und ich freundete mich mit jemandem an, der wie ich über einen Amiga 500 verfügte, meine Wahl der Waffe, als ich ein Teenager gewesen war. Mit seiner Hilfe formte sich die erste Gruppe, die ich je als Spielleiter führen durfte (Hi Stefan, Nico, Birte, Dennis und Rahul). Der erste Abend von vielen, die noch folgen sollten, war ein wichtiger Wendepunkt in meinem Leben. Damals entdeckte ich, dass allein meine Worte ganze Welten erschaffen konnten und vor allem, dass diese Worte andere fesselten.

Danach verbreitete sich plötzlich ein anderer Ruf über mich. War ich vorher der irgendwie seltsame, meist in schwarz gekleidete Horrorfan gewesen, wurde ich plötzlich zu einem Geschichtenerzähler, mit dem immer mehr Leute spielen wollten. Die meisten von ihnen ließ ich auf der Titelseite des Buches unterschreiben, um diese Zeit nicht zu vergessen. Sie hielt vielleicht zwei Jahre.

 

Ich danke euch allen, die ihr mitgespielt hat. Wo auch immer ihr jetzt sein mögt, ich wünsche euch nur das Beste.


Als die Zeit so plötzlich vorbei war wie sie begonnen hatte, legte ich das Spiel und alle seine Ergänzungen in eine Kiste und rührte sie nicht wieder an. Und obwohl ich mich als Minimalisten bezeichnen würde, konnte ich mich von eurem Werk nicht trennen. Ich möchte es nicht. Die Erinnerung an jene Zeit würde mir nicht ausreichen, denke ich, und wer weiß, vielleicht werde ich das Buch eines Tages wieder lesen und mir eine neue Gruppe suchen.

 

Vielleicht kann ich dann endlich jenes Monster einführen, das ihr so eindrücklich beschrieben habt und dessen Beschreibung ich bis heute nicht vergessen konnte. Diesen Albtraum, der bei euch Cairath heißt, möchte ich heute weitergeben.



Zu erwähnen bleibt noch, dass so ein Buch natürlich genauso eine Gemeinschaftsarbeit ist wie das Rollenspielen an sich. Und darum möchte ich auch allen anderen Beteiligten danken für das beste Rollenspiel-System aller Zeiten. Ohne Übertreibung kann ich sagen, dass ihr mein Leben verändert habt.


*Der Sonntag gehört meinen Lieblingswerken aus den Bereichen Film, Literatur, Musik, Malerei und Games.*

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